Verbesserung der Erhebung vertiefter Verkehrsunfalldaten durch motivationale Anreize
- Die Verkehrsunfallforschung vor Ort ist ein wichtiges Element zur Verbesserung der Fahrzeug- und Verkehrssicherheit. In Deutschland werden seit dem Jahr 1999 im Projekt GIDAS (German In-Depth Accident Study) Verkehrsunfälle regional und unabhängig von der polizeilichen Zielsetzung nach wissenschaftlichen Aspekten dokumentiert und rekonstruiert. GIDAS ist ein Gemeinschaftsvorhaben der Forschungsvereinigung Automobiltechnik (FAT e. V.) und der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Die zukunftsorientierte Weiterentwicklung der vertieften Unfallerhebung („GIDAS 4.0“) ist ein Schwerpunkt der Verkehrssicherheitsarbeit zu Beginn der Dekade 2021 bis 2030 im Verkehrssicherheitsprogramm der Bundesregierung. Daher war es Ziel dieses Forschungsprojektes, Empfehlungen für die Verbesserung der GIDAS-Datenerhebung in Bezug auf die Datenvollständigkeit und -qualität zu erarbeiten. Dazu sollten zum einen motivationale Ansätze identifiziert werden, mit denen die Beteiligungsrate von Informationsquellen (u. a. Polizeien, Rettungsdienste, Krankenhäuser, Unfallbeteiligte, Angehörige) optimiert und die Qualität der Datenlieferungen verbessert werden kann. Zum anderen sollten soziale, kommunikative und psychologische Aspekte der Datenerfassung durch das GIDAS-Erhebungsteam unter Berücksichtigung organisatorischer sowie personeller Erfordernisse der Informationsquellen optimiert werden. Zur Identifikation der Ursachen mangelnder Bereitschaft zur Teilnahme an der Unfallforschung und Identifizierung geeigneter Ansätze zur Verbesserung der Datenvollständigkeit und -qualität wurden Literaturrecherchen und Befragungen von Expertinnen und Experten und Institutionen durchgeführt. Die Ergebnisse der Recherchen und Befragungen wurden tabellarisch aufgenommen, gegenübergestellt und narrativ zusammengefasst. Für die identifizierten Faktoren wurden Ansätze zur Erhöhung der Teilnahmebereitschaft und Verbesserung der Datenerfassung in GIDAS abgeleitet. Machbarkeit und Erfolgspotenzial der Ansätze wurden mithilfe einer Matrix-Methode auf einer dreistufigen Skala bewertet und anschließend in eine Rangfolge gebracht. Einflussfaktoren auf die Beteiligungsrate von Individuen können in fünf Gruppen eingeteilt werden: (1) demografische Faktoren, (2) Bezug zum Unfall, (3) Information und Nutzen für die Individuen, (4) Erhebungsdesign und (5) Erhebungsteams. Dabei haben Verfügbarkeit von Informationen und Verständnis für den Zweck der Unfallforschung, der Nutzen einer Teilnahme sowie das Design der Erhebung den größten Einfluss auf die Teilnahmebereitschaft. Ansätze zur Erhöhung der Beteiligungsrate von Individuen mit hohem Erfolgspotenzial umfassen u. a. die mündliche statt schriftliche Befragung - gerade bei einer späteren Kontaktaufnahme im Unfallnachgang oder im Followup -, die deutliche Verbesserung der Sichtbarkeit und Transparenz der GIDAS-Forschung durch Veröffentlichungen (u. a. Verbreitung von Analyseergebnissen in populärwissenschaftlichen Formaten), die Verbesserung der Bedingungen am Unfallort, wie z. B. durch Hilfsmittel, die eine wetterunabhängige Befragungsatmosphäre gewährleisten, und die Erhöhung des Nutzens der Unfallbeteiligten durch Anreize, wie die Zurverfügungstellung ihrer Unfalldaten. Einflussfaktoren auf die Beteiligungsrate von institutionellen Akteuren können in sechs Gruppen eingeteilt werden: (1) Verwaltung und Recht, (2) Management, (3) Ausstattung, (4) Information, (5) Identifikation und (6) Kommunikation. In der Zusammenarbeit mit Polizei, Krankenhäusern und Rettungsdiensten haben vor allem eine rechtlich verbindliche Kooperationsbasis, die vorhandenen Ressourcen, das Vorliegen von Verfahrensvereinbarungen, Handlungsleitfäden und Infrastrukturen für den Informationsaustausch, die Identifikation mit dem Zweck von GIDAS und die intensive Kommunikation zwischen GIDAS und den Institutionen einen Einfluss auf die Teilnahme. Organisatorische und personelle Ansätze zur Optimierung der Datenerfassung durch die GIDAS-Erhebungsteams sind vor allem die Verbesserung der personellen Ausstattung durch mehr langfristig angestellte Fachkräfte mit medizinischer, psychologischer und/oder technischer Ausbildung, die konstante Finanzierung des Projekts und die Arbeit nach einem Qualitätsmanagementsystem. In Bezug auf die Grundrechte derjenigen, deren Teilnahmebereitschaft an GIDAS durch motivationale Ansätze verbessert werden soll, müssten diese aus rechtlicher Sicht so gestaltet werden, dass den Unfallbeteiligten oder beteiligten unfallnahen Akteuren Vorteile in Aussicht gestellt werden und Anreize positiv formuliert sind. Im Gegensatz zu Ge- und Verboten würden sie somit nicht als Grundrechtseingriffe angesehen werden. Auch aus ethischer Sicht sollten die Anreize positiver Art sein, die Menschenwürde wahren, die Privatsphäre und die Vertraulichkeit persönlicher Informationen der Teilnehmenden schützen und keinen Druck ausüben. Auch Ansätze aus der Sozialpsychologie könnten helfen, die Bereitschaft der Unfallbeteiligten zu erhöhen. Ziel dieser Theorien, wie u. a. die Theorie des geplanten Verhaltens nach Ajzen oder das Prinzip der Reziprozität ist es, auf Basis sozialer und psychologischer Faktoren, Verhalten (bestmöglich) vorherzusagen. Hierauf aufbauend können dann Strategien entwickelt werden, um Verhalten in eine gewünschte Richtung zu verändern. Ansätze zur Optimierung der Datenerfassung aus diesen Konzepten zielen daraufhin ab, den Betroffenen in der Ausnahmesituation eines erlittenen Unfalls bei der (Wieder-) Erlangung von Selbstwirksamkeit zu unterstützen und damit eine wichtige Voraussetzung für seine Bereitschaft zur Datenauskunft zu schaffen, z. B. durch Zeigen von Empathie über den Stimmton (Tonfall und Tonhöhe) oder durch den Einsatz von Kommunikationstechniken wie Spiegeln und Paraphrasieren und Emotional Labeling. Um diese Ansätze in GIDAS nutzen zu können, müssten die GIDAS-Teams entsprechend ausgebildet sein oder geschult werden. In der Zusammenschau der Ergebnisse ergibt sich eine Vielzahl an Empfehlungen zur Verbesserung der GIDAS-Datenerhebung in Bezug auf die Datenvollständigkeit und -qualität, die an unterschiedlichen Stellen (z. B. Organisation, Personal) ansetzen und mit unterschiedlichem zeitlichem und finanziellem Aufwand verbunden sind. Welche dieser Empfehlungen letztendlich aufgegriffen und kurz- oder mittelfristig umgesetzt werden (können), muss an anderer Stelle entschieden werden.
- On-site traffic accident research is an important element in improving vehicle and road safety. In Germany, the GIDAS (German In-Depth Accident Study) project has been documenting and reconstructing traffic accidents objectives since 1999, according to scientific aspects and regionally and independently of police. GIDAS is a joint project of the Research Association of Automotive Technology (FAT e. V.) and the Federal Highway Research Institute (BASt). The future-oriented further development of the in-depth accident survey ("GIDAS 4.0") is a focus of the road safety work at the beginning of the decade 2021 to 2030 in the road safety program of the Federal Government. Therefore, the aim of this research project was to develop recommendations for improving the GIDAS data collection in terms of data completeness and quality. For this purpose, motivational approaches were to be identified to optimise the participation rate of information sources (including police forces, emergency services, hospitals, accident participants, relatives) improve the quality of data deliveries. Furthermore, social, communicative and psychological aspects of data collection by the GIDAS survey teams should be optimised, taking into account organisational as well as personnel requirements of the information sources. Research and interviews with experts and institutions were conducted to identify the causes of unwillingness to participate in accident research and to identify suitable approaches for improving data completeness and quality. The results of the research and interviews were tabulated, compared, and summarized narratively. Approaches to increase willingness to participate and improve data collection in GIDAS were derived for the identified factors. Feasibility and potential for success of the approaches were evaluated using a matrix method on a three-level scale and then ranked. Factors influencing the participation rate of individuals can be divided into five groups: (1) demographic factors, (2) relationship to the accident, (3) information and benefits to individuals, (4) survey design, and (5) survey teams. Among these, availability of information and understanding of the purpose of accident research, benefits of participation, and survey design have the greatest influence on willingness to participate. Approaches to increase the participation rate of individuals with high potential for success include oral rather than written surveys, especially when contact is made late in the accident aftermath or follow-up, significantly improving the visibility and transparency of GIDAS research through publications (including the dissemination of analysis results in popular science formats), the improvement of the conditions at the accident site, e.g. by means that guarantee a survey atmosphere independent of the weather, and the increase of the benefit of the accident participants by means of incentives, such as the provision of their accident data. Factors influencing the participation rate of institutional actors can be divided into six groups: (1) admin-istration and law, (2) management, (3) equipment, (4) information, (5) identification, and (6) communication. In the cooperation with police, hospitals and emergency services, a legally binding basis for cooperation, the available resources, the existence of procedural agreements, action guidelines and infrastructures for the exchange of information, identification with the purpose of GIDAS and intensive communication between GIDAS and the institutions have a particular influence on participation. Organisational and personnel approaches to optimise data collection by the GIDAS survey teams are mainly to improve staffing by hiring more long-term professionals with medical, psychological, and/or technical training, to provide constant funding for the project, and to work according to a quality management system. With regard to the fundamental rights of those whose willingness to participate in GIDAS is to be improved by motivational approaches, from a legal perspective these would have to be designed in such a way that the accident participants or accident-related actors involved are promised benefits and incentives are formulated positively. In contrast to bans and prohibitions, they would thus not be regarded as encroachments on fundamental rights. From an ethical point of view, incentives should also be positive, respect human dignity, protect the privacy and confidentiality of participants' personal information, and not exert pressure. Approaches from social psychology could also help to increase the willingness of those involved in accidents. The aim of these theories, such as Ajzen's theory of planned behavior or the principle of reciprocity, is to predict behavior (as best as possible) on the basis of social and psychological factors. Based on this, strategies can then be developed to change behavior in a desired direction. Approaches to optimise data collection from these concepts aim at supporting the person concerned in the exceptional situation of a suffered accident in (re)acquiring self-efficacy and thus creating an important prereq-uisite for his willingness to disclose data, e.g. by showing empathy via voice tone (inflection and pitch) or using communication techniques such as mirroring and paraphrasing and emotional labeling. To use these approaches in GIDAS, GIDAS teams would need to be appropriately trained or educated. All the results result in a large number of recommendations for improving the GIDAS data collection in terms of data completeness and quality, which start at different points (e.g. organization, personnel) and are associated with different time and financial expenses. Which of these recommendations will ultimately be taken up and implemented in the short or medium term must be decided elsewhere.
Author: | Kerstin Schmidt, Jörg Schmidtke, Anna Schlenz, Johanna Wolff, Heiko Johannsen, Henrik Liers, Erko Martins, Christopher Pohr, Thomas Schenk |
---|---|
URN: | urn:nbn:de:hbz:opus-bast-30945 |
DOI: | https://doi.org/10.60850/bericht-m354 |
ISBN: | 978-3-95606-838-6 |
ISSN: | 0943-9315 |
Title Additional (English): | Improving the collection of in-depth road accident data through motivational incentives |
Series (Serial Number): | Berichte der Bundesanstalt für Straßen- und Verkehrswesen, Reihe M: Mensch und Sicherheit (354) |
Publisher: | Fachverlag NW in der Carl Ed. Schünemann KG |
Place of publication: | Bremen |
Document Type: | Book |
Language: | German |
Date of Publication (online): | 2025/04/11 |
Date of first publication: | 2025/04/11 |
Publishing institution: | Bundesanstalt für Straßen- und Verkehrswesen (BASt) |
Release Date: | 2025/04/11 |
Tag: | Datenqualität; GIDAS; Unfallforschung; Verkehrssicherheit Accident research; Data quality; GIDAS; Road safety |
Number of pages: | 117 |
Comment: | Projekt-Nr.: 82.0763 Projekttitel: Verbesserung der Erhebung vertiefter Verkehrsunfalldaten durch motivationale Anreize Fachbetreuung: Kerstin Auerbach Referat: Verhalten und Sicherheit im Verkehr |
Institutes: | Abteilung Verhalten und Sicherheit im Verkehr |
Dewey Decimal Classification: | 6 Technik, Medizin, angewandte Wissenschaften / 62 Ingenieurwissenschaften / 620 Ingenieurwissenschaften und zugeordnete Tätigkeiten |
Licence (German): | ![]() |